XVII. NEUES ERBRECHT: MEHR FREIHEITEN AB 2023

WAS SIE ÜBER DIE NEUEN FREIHEITEN IM ERBRECHT WISSEN MÜSSEN

Stefan Müller

Stefan Müller
Rechtsanwalt & Öff. Urkundsperson

Maria Schwieters

Maria Schwieters
Rechtsanwältin & Öffentliche Notarin

DAS ERBRECHT IST 110 JAHRE ALT

Im Jahr 1912 wurde die Titanic zu Wasser gelassen. Im selben Jahr trat das schweizerische Erbrecht in Kraft. Seither haben sich die Lebensformen und -realitäten massgeblich verändert. Demgegenüber blieb das Schweizer Erbrecht fast unverändert und hat sich nur geringfügig an diese neuen Realitäten angepasst.

Dies soll sich nun ändern. Mit der Erbrechtsrevision, die am 1. Januar 2023 in Kraft tritt, will der Gesetzgeber unter anderem modernen Familienformen gerecht werden.

WER BEKOMMT MEIN ERBE?

Ohne Vorkehrungen schreibt das Gesetz vor, wer Sie nach Ihrem Ableben beerbt. Diese sog. «gesetzliche Erbfolge» bleibt unverändert. Mittels Testament oder Erbvertrag können Sie von der gesetzlichen Erbfolge abweichen und beispielsweise weitere Erben einsetzen oder regeln, wer welchen Anteil am Nachlass erhalten soll.

Die gesetzlichen Schranken bei der freien Gestaltung werden im Rahmen der Erbrechtsrevision reduziert.

Ein Teil der gesetzlichen Erben (bspw. die Nachkommen) haben ein Anrecht auf mindestens einen Teil – den sogenannten Pflichtteil – des Erbes. Werden Pflichtteile verletzt, können die betroffenen Erben ihren Erbanteil gerichtlich herausverlangen. Über das restliche Erbe – die freie Quote – können Sie frei verfügen. Die freie Quote kann dem hinterbliebenen Ehegatten oder auch Dritten (dazu zählt bspw. der oder die Konkubinatspartner/in) zugewiesen werden.

MEHR SPIELRAUM BEI DER VERTEILUNG

Bisher ging ein Grossteil des Nachlasses zwingend an die pflichtteilsberechtigten Familienmitglieder. Mit der Erbrechtsrevision werden diese Pfllichtteile reduziert oder gar ganz abgeschafft. Es findet eine Reduktion des Pflichtteils der Nachkommen auf ½ ihres gesetzlichen Erbteils (bisher ¾) statt. Eine weitere Neuigkeit ist die Abschaffung des Pflichtteils der Eltern. Jener der Ehegatten bleibt unberührt. Dadurch gewinnt die Erblasserin bzw. der Erblasser erheblich mehr Freiheiten bei der Verteilung des Vermögens. Am besten lassen sich die neuen Möglichkeiten an einigen Beispielen veranschaulichen. Der Nachlass beläuft sich für sämtliche Beispiele der Einfachheit halber symbolisch auf CHF 100’000.

A. Verheiratete Paare mit 2 Nachkommen

Verstirbt der Ehemann, sind seine gesetzlichen Erben die Kinder und die Ehefrau. Die Eltern haben bereits heute keinen Erbanspruch. Der Pflichtteil der Ehefrau beträgt CHF 25’000 (¼ des Nachlasses) und jener der gemeinsamen Nachkommen zusammen CHF 37’500 (⅜). Wer die restlichen CHF 37’500 seines Vermögens erhalten soll, kann der Ehemann in seinem Testament oder Erbvertrag frei bestimmen. Verstirbt der Ehemann im Jahr 2023 (unter neuem Recht), so steht den Nachkommen noch ¼ des Nachlasses und somit CHF 25’000 zwingend zu. Somit kann der Ehemann künftig über die Hälfte also CHF 50’000 (bisher 37’500) seines Nachlasses frei verfügen.

B. Verheiratete Paare ohne Nachkommen

Hier haben die Eltern heute einen gesetzlichen Erbanspruch von ¼, der Rest geht an den Ehegatten (¾). Unter dem bisherigen Erbrecht stehen dem überlebenden Ehegatten zwingend CHF 37’500 (½ von ¾ des Nachlasses) zu. Die Eltern des Verstorbenen haben einen Pflichtteilsanspruch von ¼ ihres ¼ (= ⅛) und damit auf CHF 12’500. Demnach steht aktuell die Hälfte des Nachlasses zur freien Verfügung.

Mit der Erbrechtsrevision entfällt der Pflichtteil der Eltern. Folglich steigt die freie Quote des Verstorbenen um ⅛ auf ⅝ des Nachlasses (CHF 62’500). Wendet der Verstorbene seine frei verfügbare Quote dem überlebenden Ehegatten zu, so erhält dieser den gesamten Nachlass.

C. Konkubinatspartner ohne Nachkommen

Die Konkubinatspartner haben weiterhin kein gesetzliches Erbrecht und keinen Pflichtteilsschutz. Dennoch erhalten die Konkubitnatspartner mehr Freiheiten, weil die Pflichtteile der Eltern (bisher ¼) wegfallen. Paare ohne Nachkommen können künftig über ihren gesamten Nachlass, d.h. die vollen CHF 100’000 frei verfügen.

WORST-CASE-SZENARIO WIRD SELTENER

Das schweizerische Erbrecht sieht Pflichtteile vor, damit nahe Verwandte bei der Erbfolge nicht übergangen werden können. Die Auszahlung dieser Pflichtteile kann beim überlebenden Ehegatten zu finanziellen Schwierigkeiten führen.

Oft bildet die während der Ehe erworbene Immobilie den grössten gemeinsamen Vermögenswert eines Ehepaares. Bestehen die erwachsenen Nachkommen auf ihren Pflichtteil bzw. leisten sie keinen Erbverzicht, so muss der überlebende Ehegatte unter heutigem Recht ⅜ des Nachlasses auszahlen. Fehlen dafür die flüssigen Mittel, so sieht sich der oder die Hinterbliebene gezwungen, die Liegenschaft hypothekarisch (weiter) zu belasten oder schlimmstenfalls zu verkaufen (nur bei gemeinsamen Nachkommen gibt es hier zusätzlichen Handlungsspielraum).

Die tieferen Pflichtteile ab 2023 verbessern die Situation des überlebenden Ehegatten deutlich.

WEITERE NEUERUNGEN AB 2023

Die Erbrechtsrevision ändert die Situation zusätzlich in folgenden Fällen: Schenkungen nach Abschluss eines Erbvertrags; Ansprüche aus der Säule 3a; das Erbrecht bei Tod während eines Scheidungsverfahren; ½ des Nachlasses (bisher ¼) zu Eigentum an den überlebenden Ehegatten nebst Nutzniessung.

FAZIT

Verstirbt eine Person im Jahr 2023, so gilt automatisch das neue Erbrecht. Bestehende Testamente und Erbverträge sind weiterhin gültig. Wurden Quoten festgelegt, so stellt sich die Frage, ob der/die Verstorbene an der Quote festhalten oder die Anwendung der neuen Bestimmungen wollte. Bestehende Testamente und Erbverträge sollten deshalb hinsichtlich Pflichtteile und Zuwendung der verfügbaren Quote überprüft werden. Profitieren Sie bei Ihrer Nachlassplanung von den neuen Pflichtteilsregelungen und regeln Sie bereits heute Ihre Situation unter Berücksichtigung der bevorstehenden Erbrechtsrevision. Gerne zeigen wir Ihnen Ihren individuellen Handlungsspielraum bei einem persönlichen Gespräch auf. Zusätzlich stehen wir Ihnen als Urkundspersonen der Kantone St.Gallen und Thurgau bei der Ausgestaltung und Beurkundung Ihres letzten Willens mit massgeschneiderten Lösungen zur Seite.

Diesen Artikel weiterempfehlen: